Manchmal ruht gerade auf der Trennung der Segen!

Eine Predigt zu Gen 13, 2.5-18

Die Lesung aus dem Buch Genesis (vgl. Gen 13.2.5-18) handelt vom Streit zwischen Menschen. Es geht um Konflikte, die mit Verletzungen – seelischen und womöglich auch körperlichen Verletzungen – einhergehen.

Wenn eine Person eine andere verletzt hat, dann kann es unter Umständen sein, dass die Verletzte der Verletzerin vergibt. Es kann außerdem sein, dass beide sich miteinander aussöhnen. Es kann schließlich auch sein, dass beide die Beziehung fortsetzen oder neu beginnen, welche sie vorher miteinander gehabt haben.

1) Einer anderen Person vergeben – 2) sich mit ihr versöhnen – 3) die Beziehung mit ihr fortsetzen. Das sind drei voneinander verschiedene Dinge, die weder automatisch aufeinander folgen müssen noch unbedingt aufeinander folgen sollten.

Vergeben bedeutet[1]: Wenn ich von einem Täter verletzt oder geschädigt worden bin, dann entscheide ich mich aus eigenem freiem Willen – unabhängig von dem, was der Täter denkt, fühlt oder tut – dazu:

  • auf jegliche Rache zu verzichten;
  • die Vergangenheit vergangen sein zu lassen;
  • mich der Gegenwart und Zukunft mit den jetzt bestehenden Möglichkeiten und Chancen zuzuwenden;
  • für meinen zukünftigen Weg Verantwortung zu übernehmen;
  • den Täter möglichst wieder als Menschen mit seinen individuellen Einschränkungen und Qualitäten zu betrachten.

Vergeben bedeutet nicht:

  • zu bagatellisieren, zu leugnen oder zu verdrängen, wie schwer der Schaden ist, den ich erlitten habe;
  • das Unrecht hinzunehmen, das mir angetan wurde, oder gar Wiederholungen zuzulassen;
  • die Tat zu entschuldigen – also festzustellen, dass aufgrund mildernder Umstände nur wenig oder gar keine persönliche Schuld beim Täter vorliegt – nach dem Motto: „Eigentlich kann er ja nichts dafür…“;
  • auf Wiedergutmachung oder sinnvollen Ausgleich zu verzichten;
  • für mich eine allgemeine moralische Überlegenheit zu beanspruchen;
  • sofort keine negativen Gefühle gegenüber dem Täter mehr zu haben.

Einem Täter vergeben heißt, mich von ihm und seiner Tat innerlich zu befreien und loszumachen, damit ich wieder leben kann. Es geht bei der Vergebung nicht darum, den Bösewicht einfach so davonkommen zu lassen, sondern darum, dass ich davonkomme von dem, was war. Ich vergebe dem andern, nicht weil er es verdienen würde, sondern weil ich inneren Frieden verdiene.

Einer anderen Person vergeben ist etwas anderes, als sich mit ihr auszusöhnen. Wenn ich von einem Täter geschädigt worden bin, dann ist Vergebung etwas, was ganz allein bei mir liegt. Dazu brauche ich den Täter nicht. Ja, der Täter muss gar nicht erfahren, dass ich ihm vergebe, und oft ist das sogar besser so.

Versöhnung hingegen ist ein Prozess, an dem der Täter und ich gleichermaßen beteiligt sind. Versöhnung beinhaltet, dass wir beide miteinander offen über das sprechen können, was geschehen ist. Wir beide sind uns einig, wer hier wen wie geschädigt hat und wer hier welche moralische Schuld auf sich geladen hat. Versöhnung bedeutet, dass der Täter mich um Verzeihung bittet und dass ich diese Bitte annehme. Versöhnung bedeutet, dass der Täter mir aufrichtiges und spürbares Verständnis und Mitgefühl entgegenbringt. Wenn der Täter und ich uns versöhnen, dann sind wir uns einig, dass der Konflikt zwischen uns jetzt beendet ist. Wenn wir einander dann später begegnen, können wir einander entspannt in die Augen schauen.

Wo Versöhnung möglich ist und gelingt, ist das etwas sehr Gutes. Aber manchmal ist Versöhnung gar nicht möglich, z.B. weil die Verletzerin inzwischen verstorben oder aus anderen Gründen nicht mehr anzutreffen ist oder weil ihr jegliche Einsicht in ihre Schuld fehlt. Manchmal wäre Versöhnung zwar theoretisch möglich, aber der Weg hin zu einer Versöhnung wäre mit zu hohen emotionalen Kosten für die geschädigte Person verbunden. Wenn ich zum Beispiel merke: Die Gespräche, die vielleicht zu einer Versöhnung mit dem Täter führen könnten, die reißen bei mir alte Wunden auf oder führen zu neuen Verletzungen, weil der Täter nicht bereit ist, meine berechtigten Erwartungen zu erfüllen, dann darf ich auch zu der Entscheidung kommen: Nein, selbst wenn ich ihm vergebe, ich will keine Versöhnung, zumindest nicht jetzt.

Also, Vergebung und Versöhnung sind nicht dasselbe, und weder folgt die Versöhnung automatisch aus der Vergebung noch bin ich moralisch verpflichtet, mich mit denen zu versöhnen, denen ich vergeben habe. Nun gibt es noch eine dritte Option zu besprechen: die Beziehung mit einer Person fortsetzen, die mich verletzt oder geschädigt hat. Hier gilt Ähnliches wie das, was ich zuvor im Hinblick auf Vergebung und Versöhnung beschrieben habe: Nehmen wir an, ich habe einem Täter vergeben und mich sogar mit ihm versöhnt. Deswegen muss ich nicht die Beziehung mit ihm fortsetzen. Das eine ist weder die notwenige Folge aus dem andern noch gibt es ein moralisches Gebot, das mir sagen würde: „Du hast dich mit ihm versöhnt, nun musst du aber auch weiterhin mit ihm zusammen sein.“ Ich darf zu dem Ergebnis kommen: Die Beziehung mit diesem Menschen fortzusetzen, das würde mich überfordern – psychisch, sozial oder auch finanziell. Ich habe ihm vergeben. Wir haben uns ausgesöhnt. Aber jetzt gehen wir bitte getrennte Wege. Falls wir uns mal wiedersehen, ist das gut, vielleicht treffen wir uns sogar ab und zu oder sogar regelmäßig, aber er hat sein Leben, und ich habe mein Leben. Und das ist gut so.

Miteinander versöhnt getrennte Wege gehen – dafür liefert uns die heutige Lesung ein Vorbild. Abram und Lot (bzw. die Gruppen, die zu ihnen gehören) stehen zunächst im Konflikt miteinander (vgl. Gen 13,6-7). Aber dann vergeben sie einander und versöhnen sich. Sie erkennen einander als „Brüder“ an (vgl. Gen 13,8), d.h. als gleichberechtigte Menschen, die einander wohlgesonnen sind. Und dann trennen sie sich (vgl. Gen 13,9-11).

Für Abram ist die Trennung zunächst einmal mit einem spürbaren Verlust verbunden. Lot wählt sich als Aufenthaltsort die grüne und fruchtbare Jordangegend, während Abram nach Kanaan wandert, wo es seine Herden viel schwerer haben werden, genügend Futter zu finden (vgl. Gen 13,12). Aber es ist ausgerechnet nach dieser Trennung, dass Abram von Gott gesegnet wird und die Verheißung erhält, dass sein Leben fruchtbar sein wird, dass sich daraus etwas Wichtiges und Bedeutsames für viele Menschen entwickeln wird. Mit der Trennung von Lot geht für Abram Segen einher (vgl. Gen 13,14-17).

Diese Geschichte aus dem Buch Genesis enthält meines Erachtens eine wichtige Botschaft gerade für christliche Gläubige heute: Oft – und zu Recht – halten Getaufte das Ideal der Vergebung und Versöhnung hoch und werben für Einheit, Geschwisterlichkeit und ein enges Miteinander. Aber es wäre naiv und würde den Menschen in der Komplexität ihrer Persönlichkeiten und Beziehungen nicht gerecht, zu meinen, am Ende jedes Konflikts, jedes Unrechts und jeder Verletzung müsse immer Eintracht, Harmonie und ein gemeinsamer Neubeginn stehen. Das ist weder möglich noch wünschenswert. Nein, es kann Umstände geben – und wahrscheinlich sind sie gar nicht so selten – da zeigt sich: Es ist besser, wenn Menschen ihre frühere Beziehung zueinander nicht fortsetzen oder erneuern, sondern beenden.

Oft wird eine Trennung mit Verlust verbunden sein. Schließlich gibt es in der Regel in zwischenmenschlichen Beziehungen immer beides: Gutes und Schlechtes, Schmerzliches und Schönes. Und Gutes und Schönes zu verlieren ist nie leicht. Es braucht oft Mut, den eigenen Weg allein weiterzugehen – ohne die Hilfe anderer Menschen, mit denen wir früher verbunden waren. Liebgewonnene Gewohnheiten müssen unter Umständen aufgegeben werden. Sicherheit und Vertrautheit werden eingetauscht gegen unbekanntes Neuland, das erst erkundet werden will. Manchmal ändert sich nach einem Trennungsprozess das ganze soziale Umfeld, die berufliche Tätigkeit, der Wohnort… Das erfordert Kraft und Geduld, Offenheit und Flexibilität. Aber nach Mühen und Anstrengungen dürfen Menschen immer wieder auch die Erfahrung machen: Es hat sich gelohnt, eine Beziehung, die vertraut, aber leidvoll war, aufzugeben und ins Ungewisse aufzubrechen; denn am Ende führte es zu mehr Freiheit. Unser Leben wird lebendiger, fruchtbarer und reicher. Manchmal ruht also gerade auf der Trennung der Segen!

Berlin, 22. Juni 2021
Jan Korditschke SJ


[1] Was Vergebung (nicht) bedeutet, ist in veränderter Form entnommen aus: Anke Handrock, Christoph Soyer, Vergeben: Psychologisch – spirituell – biblisch (Ignatianische Impulse, Bd. 84), Würzburg, Echter Verlag 2019, 14f.